E-Mail aus der Zukunft

Das Gasthaus am Strom

Michael wohnt allein am Rande des Dorfes und hat sich mit einer wilden Krähe angefreundet. Schnell sind die beiden ein Herz und eine Seele, doch da trachtet jemand der Krähe nach dem Leben. Und der Vogel scheint genau zu wissen, was da gespielt wird. Nur Michael nicht. Er braucht Rat ...

Aber wen fragen? Hm. Ein paar Häuser weiter wohnt doch die alte Lehmannsche, die ist schon über neunzig, grubbert immer noch in ihrem Garten und züchtet gar seltsame Kräutlein und Wurzeln. Ein bißchen wunderlich ist sie zwar schon, aber man munkelt, sie bepustet Warzen, Gürtelrosen und andere Gebrechen. Manchmal wird sie sogar von Bauern mit dem Auto abgeholt, um deren Vieh zu besprechen. Es ist auch schon vorgekommen, daß Ärzte einen Patienten mit psychosomatischen Leiden zu Mutter Lehmann geschickt haben.

Gesagt, getan! Eines Nachmittags ging ich also zum Haus der alten Lehmannschen. Die Krähe saß auf meiner Schulter. Die alte Dame arbeitete gerade mal wieder im Garten.

"Tach, Frau Lehmann, ich hoffe, ich störe nicht ..."

"Ach, komm'se mal, junger Mann ... na, wen haben Sie denn da mitgebracht?"
"Ob Sie sich das Viech mal angucken können?"

Die Alte humpelte herbei und sah den Vogel aus listigen Augen an. Die Krähe blieb ganz ruhig und knurrte freundlich. Na fein. Wir gingen ins Haus. Dort sah es recht wunderlich aus, wie in einem Hexenhäuschen; sehr altertümlich, voller geheimnisvoller Schächtelchen mit Kräutern und Fläschchen mit Tinkturen. Auf einem Regal standen ein paar uralte schwere Bücher. Der alte Kachelofen bullerte. Ich setzte mich auf einen knarrenden Stuhl.

Die alte Lehmannsche nahm den Vogel auf den Arm, redete mit ihm und betrachtete ihn aufmerksam.
"Sehr interessant, das Tierchen. Das ist keine gewöhnliche Krähe. Manche von ihnen gelten als Botenvögel."

"Aber was für eine Botschaft soll sie denn überbringen?"

"Nunja, das ist so einfach nicht zu sagen, aber ich spüre in diesem Wesen eine verwandte Seele ... vor über tausend Jahren, als noch der heidnische Glauben in diesem Lande herrschte, ging die Sage, daß Krähen die Seelen von Verstorbenen sind, die keinen Frieden finden in ihrem Grabe und daher ruhelos umherirren!

Der Grund ihrer Unruhe ist eine Botschaft, die sie mit sich tragen über die Zeiten. Sie müssen erlöst werden, um heimgehen zu können ... junger Mann! Sie sind ja ganz blaß! Das ist doch nur ein Märchen! Sie sind doch nicht etwa abergläubisch?"

Natürlich nicht! Aber könnte nicht vielleicht doch ...? Die Alte sah mich so komisch an. Hm.
"Also wenn Sie sowas erzählen, dann glaub' ich das. Was soll ich denn nun machen?"

"Achja, achja." hüstelte sie "Wenn es da etwas gibt, wird es sich rechtzeitig bemerkbar machen. Hören Sie meinen Rat: Wenn die Krähe sie ruft, folgen Sie ihr ..."

Hu! Hebe dich hinweg, Geisterpack! In diesem Augenblick stupste mich die Krähe mit dem Schnabel und sah mich vorwurfsvoll an. Na, das konnte ja heiter werden.

Und das wurde es auch. Denn die Krähe ruft ihn eines Tages tatsächlich, und der verschlungene Weg führt Michael am Ende an einen Ort, von dem es normalerweise keine Rückkehr mehr gibt ...

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